Ich freue mich sehr, in diesem Jahr bei einem wundervollen Projekt teilnehmen zu dürfen, der von einigen engagierten Autorinnen ins Leben gerufen wurde: Der Autorenkalender, und im Speziellen in der Osterversion.
Hier findet sich mein Beitrag und wer möchte, der findet den Autorenkalender mit all seinen Beiträgen hier.
Herzlichst


Des Glückes Schmied
Gedankenverloren schwebte Alina durch die kristallklare Märzluft der S-Bahn-Station entgegen. Die Klaviermusik aus ihren Kopfhörern beflügelte sie zu Trippel- und Ausfallschritten, Hüpferchen und Pirouetten. Wie gut, dass zu so früher Stunde die meisten Menschen noch verschlafen in ihren Häusern hockten. So hatte sie wenigstens diese Viertelstunde für sich, um ihren Träumen nachzuhängen. Einmal am Tag die Realität ausschalten, als wäre damals nicht …
Nein, sie unterbrach die negativen Gedanken. Dies war ihre Viertelstunde. Ihr großer Moment. Der ohnehin früher, als ihr lieb war, vorbei wäre.
Und zwar genau jetzt, als sie die Hauptstraße erreichte, die trotz der frühen Uhrzeit schon mäßig bevölkert war. Mit der Musik im Ohr tanzte ihr Herz weiter, während Alina im passenden Takt die Treppen zur Bahn hinunterschritt.
Die Bahn fuhr ein, während sie den letzten verhallenden Klängen des Stücks lauschte. Beim Einsteigen stellte sie verärgert den Player ab. Wem machte sie hier etwas vor? Sie war keine vielgefeierte Primaballerina, sondern die brave kleine Bürofee, die alles tat, was man ihr auftrug. Sie erfüllte Jederleuts Wünsche – nur nicht die eigenen.
Wenig später durchkramte sie verzweifelt die Schubladen. Wenn der Montagmorgen schon so startete, dann wusste sie, wie der Rest der Woche wurde. Was für lästige Dinge Bleistiftanspitzer doch waren. Zu Tausenden flatterten sie durchs Büro – aber wehe, man brauchte einen. Dann waren sie sofort spurlos verschwunden.
Ganz im Gegensatz zu ihrem Chef, der mit einem frischen Becher Kaffee auf dem Flur vorbeiging und nur kurz den Kopf zur Tür hereinstreckte. „Frau Maus, kommen Sie bitte in mein Büro!“, sprach er und war auch schon wieder verschwunden. Im Gegensatz zum Bleistiftanspitzer konnte sie auf ihn gut verzichten.
Innerlich seufzend, doch äußerlich lächelnd erhob sie sich vom Schreibtisch und fragte sich, was sie wohl dieses Mal falsch gemacht hatte. Etwas anderes konnte es unmöglich sein. So viel hatte sie in den sechs Jahren, seit sie bei Bruno & Mars arbeitete, mitbekommen.
Sie hatte – verdammt noch mal – nichts falsch gemacht. Sie war eine der besten Arbeitskräfte, die diese Firma zu bieten hatte. Sämtliche Zahlen, Berichte, Kennzahlen prüfte sie fünffach, bevor sie diese an ihre Chefs weitereichte. Doch wen kümmerte es, ob sie jeden Auftrag mehr als perfekt erledigte, wenn der Lackaffe es nicht einmal schaffte, sich ihren Namen zu merken? Mahs, nicht Maus. Sie würde ihm auch nicht wie eine Maus gegenübertreten. Obwohl er sich das vielleicht wünschte. Dominantes Klackern ihrer Absätze auf dem Boden, Rücken durchgedrückt, Brust raus – sie war schließlich jemand.
Sie klopfte an die offen stehende Tür und trat langsam ein.
„Setzen Sie sich oder nicht, wie es Ihnen beliebt, Sie werden eh nicht lange hierbleiben“, ratterte Herr Bruno, ohne aufzublicken. Er schob Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her, als suche er etwas, dann schaute er Alina endlich an, schüttelte mit verärgertem Gesichtsausdruck den Kopf und schob die hoch auf der Stirn sitzende Brille auf die Nase. „Was kann ich für Sie tun?“
Schlagartig verschwanden die zusätzlichen Zentimeter Mut, die sich Alina in den letzten Minuten herbeigedacht hatte. „Äh, Sie haben mich rufen lassen?“ Mist, sie wusste doch, dass am Ende eines Satzes die Stimme gesenkt werden musste. Weitere Zentimeter schwanden. Nicht mehr lang, und sie reichte nur noch bis zur Schreibtischkante.
„Richtig, richtig.“ Herr Bruno setzte sich aufrecht hin. „Setzen Sie sich doch! Sie machen mich ganz nervös, wenn Sie da so in der Tür stehen bleiben.“
Alina vermied es, ihn auf seine vorherigen Worte hinzuweisen, und setzte sich. Wie schaffte es ein derart verpeilter Mensch, eine Firma zu leiten?
Er blickte sie an und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er sie direkt anschaute und nicht nur durch sie hindurch oder an ihr vorbei. „Haben Sie schon einen neuen Job?“
„Wie bitte?“ Alarmiert riss Alina die Augen auf. Neuer Job? Weshalb sollte sie denn einen neuen Job haben? Sicher, sie war seit einiger Zeit unzufrieden, aber deshalb kündigte sie doch nicht ihren Job. „Ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Na, Sie sind doch gekündigt worden.“ Herr Bruno kratzte sich am Kopf und zog aus dem Wust auf seinem Schreibtisch einen mit neonfarbenem Post-it versehenen Zettel hervor.
Heiß und kalt lief es Alina den Rücken herunter. Das musste ein Missverständnis sein. „Davon weiß ich nichts.“
„Doch, doch“, widersprach er ihr. „Hier steht es schwarz auf weiß: 15. Januar, Frau Maus über Kündigung informieren. Das war vor zwei Monaten. Sie hatten jetzt ja genug Zeit sich etwas Neues zu suchen. Dann können wir jetzt einen Aufhebungsvertrag vereinbaren, richtig?“ Er kramte einen neuen Zettel hervor und legte ihn mitsamt einem Kugelschreiber vor Alinas Nase.
Kündigung? Aufhebungsvertrag? Sie glaubte, im falschen Film zu sein. Ehe sie darüber nachdachte, hieb sie mit der flachen Hand auf den Tisch und schnellte hoch. „Ich werde hier gar nichts unterschreiben“, protestierte sie. „Ich weiß ja nicht einmal, ob Sie mich meinen oder eine Frau Maus, die ich nicht kenne. Wenn Sie mich loswerden möchten, dann schreiben Sie mir eine ordentliche Kündigung.“ Wutentbrannt drehte sie sich auf dem Absatz um und floh aus dem Büro, bevor die Tränen sie übermannten und sie vor diesem ungehobelten Klotz heulte.
Die Toilette bot ihr Zuflucht und sie schloss sich sogleich in eine der Kabinen ein, setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hegte keinerlei Zweifel daran, dass er sie meinte. Seit sechs Jahren nannte er sie konstant Frau Maus, vielleicht hätte ihr das Zeichen genug sein müssen. Doch sie war zu hundert Prozent sicher, dass weder er noch sein weniger verpeilter Geschäftsführer-Kollege Herr Mars sie über irgendetwas informiert hatte, das mit einer Kündigung zusammenhing. Wieso? Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen.
Die Tür öffnete sich und Alina hielt die Luft an. Niemand sollte wissen, dass sie sich hier verkroch. Dann hätten sie ihren Grund für eine Kündigung. Sehr geehrte Frau Maus, wir kündigen Ihre Anstellung, weil Sie Ihre Arbeit für ausufernde Toilettensitzungen liegenlassen.
„Alina?“
Mist! Nicole aus dem Nachbarbüro musste sie gesehen haben. Oder eher ihre Pumps gehört.
„Ich weiß, dass du da drin bist. Komm raus!“ Ihre sanfte Stimme strafte die harten Worte Lügen. Zögerlich verließ Alina die Kabine, doch die Tränen flossen unaufhörlich. Niemand sollte sie so sehen. Sie, die immer lachte.
„Du also auch“, murmelte Nicole und umarmte Alina freundschaftlich. Sanft fuhr ihre Hand über Alinas Kopf und dann drangen die Worte zu Alina hindurch.
Sie drückte sich von der Kollegin weg und mit einem Mal versiegten die Tränen. „Wieso auch?“
„Die halbe Firma muss gehen“, klärte Nicole sie auf. „Das letzte Jahr war eine wirtschaftliche Katastrophe. Ob Bruno & Mars es überhaupt überstehen wird, steht in den Sternen.“
Schuldbewusst senkte Alina den Kopf. Natürlich war es für sie keine schöne Situation, aber es hatte nichts mit ihr zu tun und auch nicht damit, dass Herr Bruno einfach ein ignorantes Arschloch war. Eigentlich hatte er sie immer fair behandelt, wenn man davon absah, dass er sich ihren Namen nicht merken konnte.
„Komm, lass uns unsere Sachen packen. Das wird schwer genug.“
„Frau Mahs“, rief eine Stimme hinter ihnen, als sie Alinas Bürotür erreichten. Überrascht drehte sie sich um. Es war tatsächlich Herr Bruno, der zum allerersten Mal ihren Namen richtig ausgesprochen hatte. „Es tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht so ungehobelt gegenübertreten. Sie erhalten selbstverständlich eine ordentliche Kündigung aus betrieblichen Gründen und bis dahin dürfen Sie bei voller Bezahlung daheimbleiben. Sie müssen ja auch schauen, wo Sie bleiben.“
Und schon war er verschwunden.
***
War es tatsächlich erst wenige Stunden her, seit sie durch diese Straßen getanzt war? Mit dem Karton unter dem Arm, der ihre persönlichen Dinge enthielt, schlurfte sie nun ebendiese Straßen in umgekehrter Richtung entlang. Wie durch Watte nahm sie ihre Umgebung wahr. Zu laut schrien die Gedanken in ihrem Kopf, allen voran: Wie sollte es jetzt weitergehen?
„Entschuldigung!“
Wie in Trance setzte Alina einen Fuß vor den anderen. Musste sie ihre Wohnung verlassen, wenn sie nicht rechtzeitig einen neuen Job fand?
„Entschuldigung!“
Erschrocken blickte Alina auf und in das Gesicht einer zierlichen älteren Dame, die außer Atem war. Sie musste ihr hinterhergelaufen sein.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigt sich die Dame schnell. Sie tritt einen Schritt zurück, lächelt aber weiter. Es ist ein herzliches Lächeln, bei dem das ganze Gesicht strahlt. „Ich habe Sie heute Morgen gesehen und …“
Alina schießt die Schamesröte ins Gesicht. Bei ihren lächerlichen Tanzversuchen? Kein Wunder, dass die Frau jetzt ins Stottern gerät. Dieser Tag scheint immer schlimmer zu werden.
„Sie haben so wundervoll getanzt“, redet die Frau endlich weiter, „und da wollte ich Sie fragen, ob Sie die Hauptrolle in unserem Osterballett tanzen würden.“
Überrascht reißt Alina die Augen auf. Sie soll in einem Ballett tanzen? Und dann gleich die Hauptrolle.
„Aber …“ Sprachlos sortiert sie ihre Gedanken im Kopf und korrigiert sich selbst: Dieser Tag scheint immer verrückter zu werden.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten! Jemand der so tanzt wie Sie hat natürlich schon eine Anstellung. Bitte entschuldigen Sie! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“ Sie dreht sich fort, doch Alina hält Sie zurück.
„Ich würde sehr gern in Ihrem Ballett tanzen“, sagt sie schnell, bevor sie darüber nachdenkt, was die Worte bedeuten. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf. Sie selbst mit einem verstauchten Fuß vor vielen Jahren. Das Ende ihrer Leidenschaft, nachdem sie nur noch für sich selbst und heimlich tanzte. Wäre sie bereit, in einem Ballett aufzutreten?
***
„Da ist sie“, zischte Nicole den ehemaligen Arbeitskollegen zu und sofort blitzten mehrere Handy-Kameras auf. Ganz Bruno & Mars mit allen Angestellten und Ehemaligen traf sich an Ostern, um Alinas großes Comeback zu feiern. Eine Festanstellung beim Ballett! Wer hätte das kommen sehen? „Was für ein Glück, dass ihr sie gefeuert habt“, sagte Nicole zu Herrn Bruno. „Sonst hätte sie ihre große Chance bestimmt ausgeschlagen.“
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